Vor einer Weile unterhielt ich mich mit dem Seniorchef meines italienischen Lieblingsrestaurants. Er ist ein fleißiger Mann, der mit seiner Frau jeden Tag der Woche viele Stunden lang arbeitet. Die Geschäftsführung gab er bereits vor längerer Zeit an die folgende Generation ab. Seine Arbeit ist dadurch jedoch nicht weniger geworden; von einem verdienten Ruhestand ist bei ihm noch nichts zu merken.
Ein- oder zweimal im Jahr fährt er mit dem Auto nach Italien. Wenn er über die Alpen kommt und sich die weite Ebene Norditaliens vor ihm öffnet, wenn er dann eine Tomate aufschneidet und etwas Salz darüber streut, dann spürt er: Er ist dort, wo er hingehört. Eine Tomate mit Salz schmeckt jenseits des Alpenkammes einfach anders als bei uns in Wuppertal – ganz besonders ihm als Italiener.
Seine leuchtenden Augen während dieser Beschreibung machten mir klar, dass es sich für diesen Augenblick lohnt, viele Anstrengungen auf sich zu nehmen: am richtigen Ort eine Tomate mit Salz essen zu können. Dieser Augenblick ist erfüllend und entschädigt für Mühen; es lässt sich lange von ihm zehren.
Wir alle erleben solche Augenblicke. Oft sind es kleine, banale Erlebnisse, in denen wir ein Angekommensein spüren, in denen uns leicht wird und die uns für manches entschädigen. Es gibt ein natürliches Streben nach Erfüllung, eine Sehnsucht nach individuellem Glück, nach unserer ganz eigenen „Tomate-mit-Salz-Erfahrung jenseits der Alpen“. Wir können dies als eine Art von Hunger bezeichnen. Für dessen Befriedigung nehmen wir Mühen auf uns, sind bereit uns anzustrengen, gehen wir Risiken ein und sind manchmal auch bereit zu scheitern.
Alltäglich sind diese schönen Momente nicht – im Gegenteil, meist sind sie ein seltenes Gut. Dabei nehmen wir jeden Tag Mühen auf uns, ersehnen diese Augenblicke, bewusst oder unbewusst, und verpassen doch so viele Gelegenheiten des Ankommens. Wir verpassen sie. Diese Augenblicke sind oft ganz nah, aber wir sind zu weit von ihnen entfernt.
Sicher kennen Sie – so oder ähnlich – die folgende Situation: Sie haben den Wunsch, in einem aufgeräumten Zimmer zu sitzen, zu entspannen und sich an der schönen Ordnung zu erfreuen. Dann räumen Sie alles auf. Aber anstatt sich dann hinzusetzen, fällt Ihnen schon die nächste Aufgabe ein. Und bevor Sie das aufgeräumte Zimmer genießen können, ist es schon wieder unordentlich geworden. „So ist das Leben“, kann man sagen, aber muss es so sein? Eine innere Stimme flüstert: „Man muss eben immer wieder aufräumen, es geht nicht um den Genuss. Stell dir vor, wie es aussähe, wenn du nicht aufgeräumt hättest: Dann wäre es noch viel unordentlicher.“
Wer trägt die Verantwortung dafür, ob wir einen Augenblick Pause machen, nur so, zum Genießen, oder eben nicht? Wo bleibt nach dem Aufräumen der gesunde Egoismus? Wer fordert, weiter aufzuräumen? Nehmen Sie sich einmal für drei Tage probeweise vor, die Früchte Ihrer Arbeit jeweils im direkten Anschluss zu genießen. Lehnen Sie sich zurück und stellen Sie voll Freude fest: „Das ist geschafft und erledigt – gut gemacht!“ Drei bis fünf Minuten reichen schon, und Sie werden merken, wie gut es tut. Es braucht allerdings Übung, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann die eine Tätigkeit aufhört und wo die nächste beginnt.
Betrachten wir die Kosten-Nutzen-Rechnung: Von einem pragmatischen Standpunkt aus gesehen haben wir immer Kosten, auch dann, wenn wir keinen wirklichen Nutzen aus der Tätigkeit schöpfen oder mitnehmen. Würden wir die Kosten ablehnen, würden wir unseren Platz in dieser Gesellschaft verlieren. Der Nutzen hingegen muss erst einmal realisiert werden.
Viel Mühe bedeutet noch lange kein gutes Ergebnis. Eventuell hat man sich richtig angestrengt und das Ergebnis war neutral: nicht gut, nicht schlecht − neutral eben. Von neutralen Ergebnissen kann man nicht zehren, sie stillen unseren Hunger nach schönen Augenblicken nicht, sind ästhetisch nicht befriedigend. Ein anderes Mal erhält man ein erfreuliches Ergebnis ohne besondere Anstrengung. Vielleicht war es sogar ganz einfach. Das Leben beschert einem auch Sonderangebote, es hält sich keineswegs immer an unsere Kalkulation.
Die Kosten-Nutzen-Rechnung gehört zu der Art und Weise, wie wir das Leben bewältigen. Sie suggeriert uns, das Leben sei ein kalkulierbares Geschäft. Sie geht oft auf, aber oft eben auch nicht. Wenn nicht, dann nennen wir es Schicksal. Im Umgang mit der Unkalkulierbarkeit des Lebens – die viel größer ist, als wir es uns üblicherweise eingestehen – unterscheiden sich zwei Gemüter: die Optimisten und die Pessimisten.
Zwar sagen alle: „Ein paar Glücksmomente mehr könnten meinem Leben nicht schaden.“ Oder: „Ein richtig gutes Ergebnis, das wäre schon klasse.“ Aber während die einen eher auf das Auftauchen von Sonderangeboten warten und sich in ihrem Optimismus entspannen, verleugnen die anderen, die Pessimisten, die Existenz der Freundlichkeiten des Lebens und halten es für notwendig, ihre Konzentration und Anstrengung kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Von der Kosten-Nutzen-Rechnung her lässt sich für beides argumentieren, beides hat Vor- und Nachteile.
In einer Zeit, in der Optimismus vorwiegend positiv bewertet wird, Pessimismus fast immer negativ, ist dies eine etwas provokante Aussage. Und am sinnvollsten ist tatsächlich der Mittelweg, auf dem sich der pure Optimismus und der pure Pessimismus zugunsten einer realen Gegenwartseinschätzung vermischen. Dies gilt für die großen, gesellschaftlich relevanten Themen wie auch für die kleinen Themen des Alltags: Der Königsweg liegt meist in der Mitte.
Die Frage, wie jener Mittelweg zu finden ist, wird uns weiter beschäftigen. Unsere Wahrnehmung, die Fähigkeit zur ästhetischen Empfindung und auch der hilfreiche mittlere Weg sind abhängig vom Zusammenspiel dreier Faktoren: der Aufmerksamkeit, der Konzentrationsfähigkeit und der Entspanntheit. Betrachten wir als Nächstes das Zusammenwirken dieser drei Faktoren.
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Die Unkalkulierbarkeit des Lebens ist größer, als sie uns oft erscheint. Sie hält uns jedoch nicht davon ab, in alltäglichen Situationen Kosten und Nutzen für anstehende Tätigkeiten geradezu automatisch zu kalkulieren.
Auch die Unwägbarkeiten des Lebens werden einkalkuliert. Tun die einen dies als Optimisten und vertrauen auf das Glück, dann gibt es die anderen, die Pessimisten, die dem Pech den größeren Einfluss einräumen. Beides hat Vorzüge und Nachteile. Für eine reale Gegenwartseinschätzung ist die Mitte zwischen Optimismus und Pessimismus ein guter Ausgangspunkt.