1.1 Das Ziel der Selbstorganisation: Der freie Raum

Wie lieben wir ihn, diesen leeren Schreibtisch, kurz bevor wir in den Urlaub fahren! Alles ist geordnet, nichts liegt herum, nichts ruft danach, jetzt noch erledigt zu werden. Der Schreibtisch ist leer, und das ist ein gutes Gefühl.
Ähnlich ist es in der Küche – wie schön, wenn alles wieder aufgeräumt ist! Kommt man nach einem anstrengenden Tag nach Hause und möchte sich etwas zu essen machen, würde alles stören, was auf der Arbeitsplatte herumsteht.
Der Selbstständige hat ein gutes Gefühl, wenn er frühzeitig seine Steuer erledigt hat und er nichts Ungeklärtes aus dem vergangenen Jahr mitschleppt.
Das Prinzip des freien Raumes ist so bedeutsam, dass ich es mit weiteren Beispielen veranschaulichen möchte. Nehmen wir den Weinliebhaber. Beim Blick in seinen Keller werden wir feststellen, dass dort, wo die besten Weine lagern, Platz im Regal ist. Der Weinliebhaber kann dort ohne Probleme noch einen weiteren guten Tropfen dazulegen, da ist auch für den laienhaften Betrachter Leerheit zu sehen. (Leerheit ist der Zustand des Leerseins.) Aber dort, wo die Regale bereits eng bepackt sind, liegen die Flaschen, die ihm nicht so wichtig sind.
Beim Sammler können wir bereits beim ersten Blick in seine Vitrinen feststellen, an welchen Stücken sein Herz besonders hängt: dort, wo uns Leerheit um die Exponate begegnet. Er hat ihnen mehr freien Raum zugebilligt als den vielen anderen Stücken. Denn Leerheit herzustellen bedeutet Wertschätzung. Entsprechend verhält es sich im Geschirrschrank, im Kleiderschrank, im Bücherschrank, bei den Spielsachen der Kinder, in den Garagen der Autoliebhaber – und schon in den großen mittelalterlichen Kathedralen.
Leerheit herzustellen ist ein tief in uns wohnendes Bedürfnis.
Leider macht es uns die moderne Überflussgesellschaft hierbei schwer. Wir werden schier überschüttet mit Dingen, die wir nicht angemessen unterzubringen wissen.

Beispiel Informationen (denn wir leben im Informationszeitalter):
Wohin nur mit all den E-Mails, den Briefen, den Katalogen und Artikeln, den Produktbeschreibungen und Gebrauchsanweisungen, den Belegen und Dokumentationen, den Dateien und Programmen, den Entwürfen und Zertifikaten? Wir brauchen eine Ablage, das steht außer Frage. Diese sollte schlank sein und Leerheit /freien Raum enthalten.
Der Grund für einen überquellenden Schreibtisch ist immer ein voller Schrank im Hintergrund. Hinter jedem Stau auf der Arbeitsfläche steht eine Ablage, deren Aufnahmekapazität ganz oder beinahe ausgeschöpft ist. Ein guter Schrank ist ein Schrank, in dem Leerheit vorhanden ist. Die gibt dem Inhalt Wert. Wenn dies nicht der Fall ist, taugt der Schrank nicht mehr viel.
Mit dem eigenen Kopf ist es ähnlich. Der Kopf ist zum Erfassen und Denken da, nicht zum Festhalten einer letztlich unüberschaubaren Informationsfülle. Mit einem Bild aus der Computersprache: Auf der Festplatte haben wir in der Regel ausreichend Platz, aber im Arbeitsspeicher kann es eng werden. Den müssen wir immer wieder frei machen, der darf ruhig relativ leer sein. Es macht einen großen Unterschied, ob wir einen freien Kopf haben oder nicht. Nur wenn wir Leerheit im Gedankenraum haben, können wir die Dinge wirklich aufnehmen, die auf uns zukommen. Wenn hingegen Aufgaben und Vorhaben, Pläne und Informationen sich dort dicht an dicht drängeln, dann macht die Arbeit keine Freude mehr. Dann haben wir den Kopf nicht frei.Und das nimmt dem Leben Qualität.

Sagen wir über jemanden, er hätte seinen Kopf nicht frei, dann nehmen wir wahr, dass ihn etwas einspannt und seine Aufnahmefähigkeit behindert. Wenn jemand dagegen sagt, er habe für eine Aufgabe den Kopf ganz frei, beschreibt er damit das andere Extrem: einen Zustand höchster Zuwendungsbereitschaft. Dazwischen gibt es Abstufungen. Nicht ganz frei, aber auch nicht völlig verstopft, das hat etwas Normales.
Auch dieser Normalität, dieser nicht optimalen Bedingung, den Kopf nicht richtig frei zu haben, wollen wir begegnen. Wenn wir unsere beruflichen Aufgaben, unseren Alltag und auch uns selbst organisieren,
dann ist unser Ziel, den Kopf frei zu bekommen: so frei wie möglich, und dies so oft wie möglich. Ein freier Kopf hat mit Leerheit zu tun: nicht mit der dumpfen Leere einer völligen Erschöpfung, sondern mit wacher, aufnahmebereiter Leere, mit dem Angekommensein und der Lust, Neues starten zu wollen – mit freiem Kopf, frei von allem, was Ballast wäre.
Einen freien Kopf zu haben bedeutet, einer Aufgabe oder Situation ganz viel Raum geben zu können. Wir bieten innere Weite an, das tut den Aufgaben gut und auch den Menschen, denen wir begegnen. Es sind nicht nur die Aufgaben und Vorhaben, Pläne und wichtigen Informationen, die uns die Weite nehmen können. Auch Sorgen und Ängste, Erwartungen und sehnsüchtige Wünsche sowie der gesamte gesammelte Ärger machen es eng in uns. Das Ideal eines freien Kopfes bedeutet, möglichst frei von alledem zu sein, so oft es geht.

Wir betrachten drei Aktivitäten: Planen, Ausführen und Ordnen. Planen ist nach vorne gerichtet, es bereitet uns vor – auf das, was auf uns zukommt. Weil die Wirklichkeit letztlich nicht planbar ist, steuern wir unsere Aktivitäten, wir führen sie aus. Führen ist auf den Augenblick unseres Tuns gerichtet – es bedeutet, bewusst zu handeln. Ordnen heißt, sich mit dem zu beschäftigen, was entstanden oder geworden ist. Wir hinterlassen Ordnung, wenn es möglich ist. Denn Dinge, die nicht ihren richtigen Platz finden, können wir nicht loslassen, sie nehmen uns unsere Beweglichkeit und machen uns unfrei für Neues. Im Planen, Führen und Ordnen begegnen uns somit Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Die Freiheit soll natürlich ihren Platz in der Gegenwart finden, nur dort macht sie Sinn.
Selbstorganisation hat das Ziel, Freiräume zu schaffen und Leerheit herzustellen – nicht nur im Kopf, auch auf der Schreibtischoberfläche, in den Schränken und Schubladen, den Ablagen und Archiven, im Terminkalender und auf den Zetteln, auf denen man sich notiert hat, was alles noch zu tun ist.

Der Weg dahin beinhaltet viele Entscheidungen. Manches wird man erledigen müssen, anderes darf man streichen. Manches macht man besser einmal ordentlich, sodass es lange vorhält, bei anderem darf man schnell sein – Hauptsache, weg damit. Die jeweiligen Entscheidungen fallen bei jedem von uns anders aus. Diese konkreten Entscheidungen sind subjektiver Natur, abhängig vom ästhetischen Empfinden des Einzelnen. Was für den einen stimmt, muss für den anderen nicht richtig sein. Für uns alle gilt aber: Wir können nur das organisieren, steuern und zielgerichtet beeinflussen, was uns bewusst ist. Darum ist es wichtig, die Dinge aufmerksam und genau zu betrachten. Dafür nutzen wir eine der wunderbarsten menschlichen Eigenschaften, das ästhetische Empfinden.


 

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